Oder: Warum Konfliktlösung „auf Distanz“ manchmal erfolgsversprechender ist als „von Angesicht zu Angesicht“
Vielleicht kennen Sie solche Situationen: Wenn sich Menschen sprichwörtlich nicht „riechen“ können und die Luft im Raum brennt? In einem anderen Fall die räumliche Distanz eine gemeinsame Terminfindung auf Monate hinaus unmöglich macht? Oder eine „engmaschige“ Begleitung eines Teams sinnvoll wäre, aufgrund von Homeoffice und Teilzeitarbeit dies aber nahezu unmöglich ist?
Dann könnte es sich lohnen, mögliche Vorbehalte über Bord zu werfen und über Online-Mediation nachzudenken. Warum?
Lange Zeit wurden Online-Beratungsformate belächelt: Halbherzig, wenig wirksam, „gefühllos“, oberflächlich, technisch unzuverlässig usw. An Bedenken mangelte es nicht.
Dabei spricht nicht erst seit der Coronavirus-Pandemie vieles für Online-Formate:
- Die Arbeitswelt verändert sich: Homeoffice, Führen auf Distanz, virtuelle Teams seien nur einige Schlagwörter. Online-Kommunikation und Video-Konferenzen gehören längst zum Alltag. Online-Kompetenzen sind zwischenzeitlich Schlüsselkompetenzen und Grundvoraussetzung für die moderne Berufswelt.
- Für die „Generation Instagram“, ist die Kommunikation in sozialen Netzwerken, auf Plattformen und in weiteren mobilen Anwendungen zunehmend alltäglich. Alle „11 Minuten verliebt sich ein Single (online)“. Andererseits werden viele Konflikte online ausgetragen oder „gelöst“. WhatsApp und andere Dienste lassen grüßen.
- Aber auch Institutionen wie Behörden nutzen Online-Tools bei der Bürgerbeteiligung oder der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben. Online-Plattformen bieten bei Beschwerden Online-Konfliktlösungsverfahren an. Auf Europäischer Ebene wurde die Online-Verbraucherstreitbeilegung mit einer eigenen EU-weiten Plattform etabliert.
- Therapie-Angebote und „Streetwork“ werden zunehmend erfolgreich virtuell abgebildet.
Die Beispiele zeigen: Die Welt geht online und wird zunehmend digitaler. Und diese Entwicklung wird auch nicht vor der Mediation halt machen. Aus gutem Grund, denn die Online-Mediation hat viel mehr zu bieten als einen geringeren zeitlichen und finanziellen Aufwand. Sie kann echte Mehrwerte hinsichtlich Qualität schaffen und manche Nachteile der „Face-to-Face-Mediation“ kompensieren.
Die „Apparatur“: Audio, Video oder Text? Oder Hybrid?
Online-Mediation ist nicht gleich Online-Mediation. Es kommt auf das Medium an. So sind synchrone Formen unter Nutzung von Video- oder Audiotools – zu letzterem gehört auch das gute alte Telefon – genauso möglich wie asynchrone Wege mithilfe textbasierter Online-Kommunikation. Hier kann die Online-Mediation ihre Vorteile ausspielen: Nicht entweder oder sondern gerade der hybride Einsatz der Technik eröffnet ganz neue Möglichkeiten: Video, Chat, Visualisierung, mit Ton aber ohne Video, Zuschaltung per Telefon usw. Kombinationsmöglichkeiten machen den Reiz aus und eröffnen neue Spielarten.
Und: Online-Mediation in allen Varianten wirkt!
Auch wenn die Online-Mediation noch ein junges Anwendungsfeld ist, liegen bereits einige interessante Studien vor. So wurde bereits im Jahr 2009 im Auftrag des Niederländischen Justizministeriums ein Pilotprojekt im Rahmen von Online-Mediation bei Scheidung durchgeführt. Ziel war es, die Mediation komplett online durchzuführen. 80 Scheidungspaare nahmen an diesem Pilotprojekt teil. Sowohl von der Universität Tilburg, Niederlande („Measuring Access to Justice Programm“) als auch von der Universität Leuven, Belgien (Schwerpunkt auf psychologische Aspekte) wurde eine Auswertung durchgeführt. Die wichtigsten Erkenntnisse sind:[1]
In 76% der Fälle wurde eine Vereinbarung erzielt, eine Teilvereinbarung in 8% der Fälle und in 16% der Fälle wurde keine Einigung erreicht.
Bemerkenswert ist, dass 81% in künftigen Konflikten wieder Gebrauch von Online Mediation machen würden. 73% der Medianden waren mit dem Mediationsverfahren „sehr zufrieden“ bis „extrem zufrieden“
Auch Studien aus anderen Bereichen der Online-Kommunikation belegen deren Wirksamkeit. So liefern Forscher der Universitäten Leipzig und Zürich zum ersten Mal einen wissenschaftlichen Beleg für die Gleichwertigkeit einer Psychotherapie mittels Internet.
„Eine Online-Psychotherapie ist ebenso effizient wie eine konventionelle Therapie. Drei Monate nach Therapieende haben Patientinnen und Patienten einer Online-Psychotherapie sogar weniger Krankheitssymptome.“
Auch wenn diese Untersuchung sich nicht ohne weiteres auf die Mediation übertragen lässt, können doch auch Parallelen gezogen werden.[2]
Ein anderes Beispiel zeigt, wie neue Medien die Kommunikation verändern. So gaben in einer aktuellen Studie an, dass 53 Prozent derjenigen Befragten, die Emojis bzw. Emoticons in ihren digitalen Textnachrichten nutzen, durch deren Verwendung ihre Gefühle besser darstellen können. Vor allem die unter 35-Jährigen verwenden Emoticons bzw. Emojis, weil sich damit Missverständnisse vermeiden lassen bzw. weil es ihr Gesprächspartner ebenfalls tut.[3]
Spezielle Vorteile der Video-Online-Mediation
Der Einsatz des richtigen Mediums mag wohl überlegt sein. Schnell verfügbar ist meist das Telefon. Doch im Vergleich zur Video-Online-Kommunikation schneidet die rein auditive Kommunikation schlechter ab. Laut einer Studie des Fraunhofer IAO liegt der Mehrwert der videobasierten Kommunikation in der Qualität, im Prozess und der Zufriedenheit des Ergebnisses[4]. Während bei Telefonmeetings Aufgaben verteilt und dann mehr oder weniger getrennt bearbeitet, aber nicht gemeinsam gelöst wurden, unterstützt das Videoformat die Zusammenarbeit. Die „weichen“ Effekte, so die Studie, kommen vor allem über mehrere Meetings hinweg zum Tragen.
Im Vergleich zu Telefonschaltungen gaben rund 70% der Teilnehmer an, dass die Videotechnik zu einer höheren Motivation und mehr Engagement führt.
Knapp 60% schätzten, dass die Visualisierung des Diskussionsobjekts und die Sichtbarkeit aller Teilnehmer eine offenere Diskussion gestattet. Und gut 74% würdigten, dass im Vergleich zum Telefon die direkte und persönlichere Kommunikation zu einer positiveren Arbeitsatmosphäre führte.
Jeder, der schon einmal eine Telefonkonferenz moderieren durfte, weiß wie anspruchsvoll das Einfordern der Struktur und der „Funkdisziplin“ ist. Die Videotechnik erleichtert hier natürlich die Wahrnehmung visueller Signale und unterstützt so die Gesprächsorganisation und -moderation. Desinteresse oder „zu Wort melden“ werden durch Körpersprache, Bewegung oder Blickrichtung leichter wahrgenommen[5].
Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Vorzüge, die gerade im Vergleich zur Präsenzmediation auffallen:
- Die Konfliktpartner befinden sich meist in ihrem bekannten Umfeld, was ihnen Sicherheit und „Geborgenheit“ vermittelt. Es fällt ihnen damit leichter, sich auf die Mediation einzulassen.
- Benachteiligungen können, wenn eine Seite von mehreren Personen vertreten wird, leichter kompensiert werden. Das „personelle Übergewicht“ wird dabei weniger gravierend als bei persönlicher Anwesenheit in einem gemeinsamen Raum erlebt. Möglich ist auch der Ausgleich körperlicher oder sprachlicher Macht z.B. durch Begrenzung der Redezeiten, was online aufgrund eines anderen Zeitmanagements bzw. des Einsatzes eines „virtuellen Mikrofons“ leichter eingeforderter werden kann. Auch die Angleichung der äußeren Form wie Statussymbole, Kleidung, Schmuck o.ä. werden nivelliert.
- Da der Auslöser der körperlichen Anwesenheit fehlt, kann dies zu weniger Emotionalität führen. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass heftiger und direkter reagiert wird.
- Das Medium unterstützt die Offenheit der Kommunikation. Dies zeigt schon ein Vergleich mit dem Einstellen von privaten Informationen von Nutzern sozialer Netzwerke. Im virtuellen Raum fallen leichter Grenzen und Hemmungen. Damit wird offener über eigene Anliegen gesprochen.
- Online entsteht eine Abnahme des „Wir-Gefühls“ – und damit eine Förderung der Konzentration auf sich selbst (Selbstbehauptung und Reflexion).
- Allianzen mit dem Mediator werden erschwert, also die Allparteilichkeit und Neutralität unterstützt. Hierzu ein einfaches Beispiel: Die Technik lässt nicht zu, dass der Mediator den „virtuellen Stuhl“ näher an einen Medianden bzw. Mediator rückt.
- Einzelgespräche zwischen den Mediatoren und einem Beteiligten können, sofern vereinbart, kurzfristig (z.B. in „Sendepausen“) durchgeführt werden. Gleiches gilt für die Hinzuziehung von Experten, wie z.B. Rechtsanwälten.
- Die Video-Online-Mediation ist transparent und kann gut dokumentiert werden. Die Ergebnisse liegen meist sofort in digitaler Form vor.
- Und zu guter Letzt: Terminabsprachen sowie Folgetermine und eine engmaschige Begleitung sind leichter möglich. Die „Taktzahl“ der Sitzungen lässt sich so erhöhen.
Ist „Online“ das neue „Offline?“
Bei all diesen Vorzügen stellt sich natürlich die Frage, warum nicht generell auf die Video-Online-Mediation verwiesen wird. Einige Fallgruppen sprechen eher für eine „Face-to-Face-Mediation“, wenn die Konfliktpartner beispielsweise im Alltag ebenfalls einen sehr engen persönlichen Kontakt pflegen. Aber wie oben gezeigt, muss dies fallabhängig betrachtet werden.
Erforderlich ist außerdem, dass die Parteien die notwendige Technik beherrschen, auch wenn die Anforderungen hieran gering sind. Erfahrungen mit Video-Konferenzen sind dabei sicherlich nicht von Nachteil. Auch Aspekte wie Datensicherheit müssen gewährleistet sein.
Körperliche Signale und „Schwingungen“ werden weniger wahrgenommen als in der „Face-to-Face Mediation“, in der die Teilnehmer auch dann kommunizieren, wenn nicht gesprochen wird (z.B. durch Blickkontakt). Auch scheinbar profane Aspekte, wie Begrüßung, Pausengespräche oder Small-Talk, können in der Video-Online-Mediation zu kurz kommen, was jedoch nicht zwangsläufig ein Nachteil sein muss.
Aus Mediatorensicht zeigt sich, dass einige Methoden und Techniken der Mediation online nicht eingesetzt werden können, wie z.B. bei der Gestaltung des Settings.
Ohne fundierte Online-Kompetenzen geht es nicht!
Was nicht gelingt, ist die „Face-to-Face“ Mediation eins zu eins im virtuellen Mediationsraum umzusetzen. Dazu braucht es eine Anpassung der Methodik. Und diese fängt zunächst im Kopf der Mediatorin oder des Mediators an und betrifft die Frage: „Wie stehe ich zur Online-Mediation?“ Bei einer aufgeschlossenen und interessierten Grundhaltung lassen sich viele Hürden nehmen.
Allein das richtige „Mindset“ wird jedoch nicht reichen, um erfolgreich online zu mediieren. Dies zeigt auch die oben genannte Studie zur Moderation von Online-Meetings: Demnach reicht rein funktionales „Bedienwissen“ (wie geht was, wo ist welche Funktion) nicht aus. Vielmehr braucht es spezifische Kompetenzen und Fähigkeiten mediengestützter Interaktion und Moderation.[6]
Folgende bruchstückhafte Auflistung zeigt den Fächer an geforderten Fähigkeiten und Aufgaben zusätzlich zu dem, was ein „Offline-Mediator“ beherrschen sollte:
- „Blinde“, sichere Bedienung der Technik
- Gründliche Vorbereitung und Planung der Onlinesitzung wie beispielsweise des Ablaufs, die Einrichtung des virtuellen „Mediationsraumes“ bis hin zum „Vorabbriefing“ der Mediandinnen und Medianden
- Entwickeln von Optionen für unterschiedliche Szenarien, denn Spontanität ist online anspruchsvoller
- Entwicklung eines „Notfallplanes“ für unvorhergesehene technische Probleme
- Die Fähigkeit, auch im virtuellen Raum Vertrauen und eine tragfähige Medianden-Mediatoren-Beziehung aufzubauen
- Vertiefte Online-Kommunikationskompetenzen, um einerseits strukturierte, andererseits aber eine reflektierte Kommunikation zu ermöglichen
- Umgang mit Emotionen im virtuellen Raum
- Förderung von Interaktion
- Angepasstes Zeitmanagement
- Virtuelles visualisieren und gekonnter Einsatz von Medien
- usw. usw.
Und auch hier gilt: Übung macht den Mediator, schafft Sicherheit und eröffnet den Raum, sich ganz auf die Medianden einzulassen und deren Anliegen zu widmen. Unter diesen Voraussetzungen sollte einer erfolgreichen Mediation nichts mehr im Wege stehen.
Der Ausblick: Vielfalt statt Einfalt!
Die Online-Mediation wird – so unsere These – künftig ein selbstverständliches Angebot auf dem Gebiet der Mediation darstellen. Das Argument, die Online-Mediation sei nicht für alle Fälle geeignet, mag stimmen. Aber gilt das nicht ebenso für einige Fälle der Face-to-Face-Mediation?
Erfreulich, dass Mediatoren flexibel sein können und ihnen dadurch ein weiteres, interessantes Produkt als Angebot für ihre Medianden zur Verfügung steht.
[1] Pilot „Raad voor Rechtsbijstand“: Online-Scheidungsmediation, Universität Tilburg, 2009
[2] Pressemitteilung 237/2013 der Universität Leipzig vom 05.08.2013
[3] Sprachliche Kommunikation in der digitalen Welt; Eine repräsentative Umfrage, durchgeführt von forsa,
Herausgegeben von Prof. Dr. Peter Schlobinski und Dr. Torsten Siever, 12.02.2018 (Gesellschaft für deutsche Sprache / mediensprache.net an der Leibniz Universität Hannover)
[4] https://blog.iao.fraunhofer.de/der-wahre-mehrwert-von-videokommunikation/ (letzter Abruf: 03.04.2020)
[5] https://blog.iao.fraunhofer.de/der-wahre-mehrwert-von-videokommunikation/ (letzter Abruf: 03.04.2020)
[6] https://blog.iao.fraunhofer.de/der-wahre-mehrwert-von-videokommunikation/ (letzter Abruf: 03.04.2020)
